Utländers in Sülldorf – ausländische Zivil- und Zwangsarbeiter in der Sülldorfer Landwirtschaft zwischen 1939 und 1945

Von Wolf Müller, Hamburg-Sülldorf

© Wolf Müller

Vor einigen Jahren hatte ich eine ehemalige Zwangsarbeiterin für drei Tage in Hamburg zu Gast. Nina Dongopolava wurde während der deutschen Besatzung Weißrusslands als 12 jähriges Mädchen zusammen mit ihrer Mutter nach Hamburg verschleppt. Bis zum Kriegsende musste sie in einem Billbrooker Barackenlager leben. Frieren und Hunger gehörten zu ihren Erinnerungen, wie lange Arbeitszeiten und rüde Bewacher. Seit dem hat mich das Thema Zwangsarbeit während der NS-Zeit nicht mehr in Ruhe gelassen.

Zeitzeugen, die sich an Zwangsarbeiter erinnern werden immer weniger. Es wird Zeit, diesen Teil der deutschen und damit auch Sülldorfer Geschichte aufzuschreiben. Im Hamburger Staatsarchiv werde ich fündig: rund 60 Ausländer, die auf den Sülldorfer Höfen lebten, konnte ich ausfindig machen. Über diese Menschen und ihre Lebensumstände möchte ich, soweit dies heute noch möglich ist, berichten. Die Beschreibung der Rahmenbedingungen, unter denen die Zwangsarbeiter in Sülldorf lebten, basieren vor allem auf das von Friederike Littmann verfasste Buch „Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft“. Meine Ausführungen konnte ich durch fünf Gespräche mit Sülldorfer Zeitzeugen ergänzen. Darüber hinaus waren meine Anfragen beim Internationalen Suchdienst teils erfolgreich und gaben Hinweise über den Verbleib einzelner in Sülldorf ansässigen Ausländer.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1.9.1939 fielen die ersten Schüsse gegen Polen. Deutsche Männer wurden als Soldaten zum Kriegsdienst eingezogen. Die Hoffnung, dass der Krieg bald vorüber sei, zerschlug sich schnell. Schon im darauf folgendem Jahr wurden die Niederlande, Belgien und Frankreich angegriffen und besetzt, ein Jahr später folgte der Angriff auf die Sowjetunion. Dieser, sich ausweitende Krieg, erforderte immer mehr Soldaten an den Fronten, immer mehr Männer fehlten der Wirtschaft. Zunächst versuchten die deutschen Besatzungsbehörden in den besetzten Ländern Freiwillige für den Arbeitseinsatz im Reich zu finden. Doch reichte die Zahl der Arbeitskräfte nicht aus, um den Arbeitskräfteschwund durch Einberufungen auszugleichen. In vielen von den Deutschen besetzten Gebieten wurde die Arbeitspflicht für die gesamte Bevölkerung eingeführt. So wurde es möglich die Bewohner zum Arbeitseinsatz im Reich zu zwingen. Besonders in Polen und in der Sowjetunion wurden äußerst rüde Methoden zur Rekrutierung von Arbeitskräften für das Reich angewendet. Menschenjagden und öffentliche Razzien waren keine Einzelfälle. Aber auch Kriegsgefangene wurden nach Deutschland verfrachtet, um ihre Arbeitskraft für den „Endsieg“ zu nutzen.

Entsprechend dem Erlass des Hamburger Reichsstatthalters Karl Kaufmann, sollten Ausländer in der Hansestadt keine privaten Unterkünfte beziehen und mussten in Barackenlagern leben. Wegen Materialmangels kam der Bau immer neuer Lager nicht schnell genug voran, um die in Hamburg tätigen bis zu 500 000 Ausländer unterzubringen. Zudem wurde die Wohnsituation durch die Bombenangriffe insbesondere 1943 auf Hamburg, bei denen etwa 50% des Wohnraumes zerstört wurde, immer dramatischer. So waren die Behörden froh, wenn die Arbeitgeber in der Landwirtschaft Wohnraum für Ausländer zur Verfügung stellen konnten. Diese „Fremdarbeiter“ mussten dann polizeilich gemeldet werden. Die Daten wurden in der straßenweise geordneten Hausmeldekartei eingetragen, die im Hamburger Staatarchiv heute noch vorhanden ist. Um herauszufinden, wie viele „Zwangsarbeiter“ auf den einzelnen Höfen beschäftigt waren, habe ich diese Hausmeldekartei für Sülldorf ausgewertet. Die folgende Tabelle zeigt, dass die in Sülldorf ansässigen „Utländer“ auf 15 landwirtschaftliche Betriebe verteilt waren:

Tab. 1. Die Verteilung der Ausländer auf die Sülldorfer Landwirtschaftbetriebe zwischen 1940 – 1945 laut Hausmeldekartei

Hof
Nr.
Adresse des Betriebes*
damaliger*
Hofeigentümer
Anzahl der wohnhaften Ausländer
1
Sülldorfer Kirchenweg 198
Ernst von Appen
1
2
Sülldorfer Kirchenweg 201
Wilhelm Eggerstedt
2
3
Sülldorfer Kirchenweg 209 - 213
Hermann Timmermann
-
4
Sülldorfer Kirchenweg 218
Emma Ramcke
5
5
Sülldorfer Kirchenweg 219
Wilhelm Ladiges
10
6
Sülldorfer Kirchenweg 224
Johannes Ramcke
-
7
Sülldorfer Kirchenweg 237
Wilhelm Timmermann
4
8
Sülldorfer Kirchenweg 242
Hermann Glißmann
2
9
Sülldorfer Kirchenweg 258
Wilhelm Gerkens
11
10
Sülldorfer Kirchenweg 259
Hinrich Behrmann
1
11
Sülldorfer Kirchenweg 262
Wilhelm Ellerbrock
4-5**
12
Sülldorfer Kirchenweg 274
Wilhelm Ellerbrock
4
13
Lehmkuhlenweg 3
Wilhelm Ramcke
8
14
Lehmkuhlenweg 9
Benni von Appen
2
15
Schlankweg 19
Auguste Ramcke (Witwe)
-
16
Ohlnhof 2 (Schweinemästerei)
Hinrich Timmermann
1
17
Op`n Hainholt 113 (Kohlen und Ldw.)
Hinrich Ramcke
3
18
Bullenwisch 100 (Schweinemast)
Hugo Butze
2***
Summe der Ausländer
60-61

*die Angaben entsprechen dem Altonaer Adressbuch 1938
** Angaben teils nicht lesbar
*** Auf dem Hof Butze war nach Zeugenaussagen nur ein Zwangsarbeiter tätig. Warum dort zwei Zwangsarbeiter gemeldet waren, lässt sich nicht ergründen.

Nun wird man einwenden können, dass nicht alle in Sülldorf wohnhaften Ausländer auch tatsächlich in der Landwirtschaft tätig waren. Dies wird aber vermutlich nur auf dem Hof Op`n Hainholt 113 zutreffen, da der Eigentümer auch mit Kohlen gehandelt hat. Es ist deshalb davon auszugehen, dass ein oder mehrere Arbeiter vermutlich auch Kohlen schleppen mussten. Auf der anderen Seite ist fraglich, ob tatsächlich alle in Sülldorf lebenden Ausländer dort tatsächlich gemeldet waren. Eine Ukrainerin wurde 1944 zweimal aus einem Krankenhaus auf den Hof Emmy Ramcke (Sülldorfer Kirchenweg (SK) 218) entlassen, ohne in der Hausmeldekartei erwähnt zu werden.

Zusätzlich zu den auf den Höfen wohnhaften Ausländern standen Arbeitskräfte für die Landwirtschaft auch im Barackenlager Iserbrooker Weg 11 zur Verfügung. In diesem Lager lebten einerseits französische Kriegsgefangene und getrennt von diesen vor allem Arbeiter aus Polen. Nicht nur auf dem Hof Hermann Glißmann (Sülldorfer Kirchenweg (SK) 242) waren zwei französische Kriegsgefangene mit Vornamen Andre und Antoinette tätig (mündliche Mitteilung Günter von Appen). Auch auf dem Hof Wilhelm Timmermann (SK 237) war ebenfalls ein Kriegsgefangener aus Frankreich tätig. Nach Angaben von W. Timmermann mögen in der Sülldorfer Landwirtschaft zusätzlich 8 bis 9 französische Kriegsgefangene tätig gewesen sein. Auf welchen Höfen die Kriegsgefangenen tätig waren kann heute nicht mehr vollständig rekonstruiert werden. Die Zahl der in der Sülldorfer Landwirtschaft tätigen Ausländer erhöht sich damit auf etwa 68 bis 70 Personen.

Im Hausmelderegister sind neben dem Namen und der Nationalität auch das Geburtdatum, das Einzugsdatum und manchmal auch Bemerkungen angegeben. Auf diese Weise konnten drei gemeldete Personen als nicht in der Landwirtschaft tätig identifiziert werden, da sie zu jung für den Arbeitseinsatz waren. Die 23jährige Tatjana B., brachte am 1.3. oder 1.8. (im Register nicht lesbar) 1944 in Hamburg ihre Tochter Ludmilla zur Welt. Die kleine Hamburgerin Ludmilla, mit russischer Nationalität, wohnte auf dem Hof Wilhelm Ellerbrock (SK 274) zusammen mit ihrer Mutter. Auf dem Hof Wilhelm Gerkens (SK 258) war zudem eine vierköpfige polnische Familie mit zwei Kindern gemeldet, die erst 2 und 4 Jahre alt waren, als sie nach Sülldorf verbracht wurden. Sie blieben etwa fünf Jahre in unserem Stadtteil. Von diesen zwei Ausnahmen abgesehen, ist davon auszugehen, dass alle auf den Höfen gemeldeten Personen in der Landwirtschaft als Arbeitskräfte eingesetzt wurden.

Aufschlussreich ist auch das in der Hausmeldekartei ebenfalls genannte Einzugsdatum der „Fremdarbeiter“. Fünf Personen wurden erst 1945 als zugezogen gemeldet. Der Ukrainer bzw. die Ukrainerin Mykola F. kam am 24.4.1945 mit 24 Jahren auf den Hof Emma Ramcke (SK 218). Aus dem Melderegister für Ausländer in Hamburg ergibt sich, dass diese Person aber schon seit dem 29. Juli 1944 in Hamburg ansässig war. Warum diese Person kurz vor Ende des Krieges noch nach Sülldorf kam, kann nur vermutet werden. Nicht selten mussten ausländische Arbeiter wegen eines Bombentreffers ihrer Unterkunft oder Arbeitsstelle ihren Wohn- bzw. Arbeitsort wechseln.

Es ist davon auszugehen, dass auch die übrigen 1945-Zugezogenen bereits schon vorher in Hamburg tätig waren. Eine Besonderheit stellt der damals 23 jährige Josef F. dar, bei dem als Nationalität Protektorat (also Tschechoslowakei) angegeben ist. In der Hauskartei wurde vermerkt, dass er am 12.4.1945 aus dem KZ-Sachsenhausen „zugezogen“, also nach einer KZ-Haft in Sülldorf wohnhaft wurde. In diesem KZ fand die Ausbildung der SS-Mannschaften statt. Es ist berüchtigt für zahlreiche Ermordungsaktionen. Das KZ wurde am 22.4.1945 durch sowjetische und polnische Truppen befreit. Am Tag zuvor wurden tausende Häftlinge noch auf einen Todesmarsch geschickt, bei denen eine ungezählte Anzahl an Häftlingen nach Entkräftung von SS-Soldaten erschossen wurden. Meine Nachfrage in der Gedenkstätte KZ-Sachsenhausen bestätigte, dass Josef F. in diesem KZ eingesperrt war. Dort erhielt er die Häftlingsnummer 123435, die er vermutlich im Januar 1945 erhalten hatte. Entlassen wurde er am 17.03.1945, also rund drei Wochen bevor er hier in Sülldorf als wohnhaft gemeldet worden ist. Da die SS kurz vor der Befreiung nahezu alle Häftlingsunterlagen vernichtet hatten und die russischen Soldaten die vorhandene Restbestände nach Moskau verbrachten, konnte ich von der KZ-Gedenkstätte keine weiteren Auskünfte über Josef F. erhalten. Meine Anfrage beim Internationalen Suchdienst diesbezüglich ergab jedoch weitere Erkenntnisse über diesen Mann.

Der Suchdienst teilt mir mit, dass Josef F. bereits 1943 in Hamburg, Hovestrasse 44, ansässig war. Als Beruf wurde Student vermerkt. Welche genauen Begebnisse dafür ausschlaggebend waren, dass die Hamburger Staatspolizei ihn verhaftete und am 17.Mai 1943 ins KZ-Neuengamme einwies (Häftlingsnummer 21079), ist nicht bekannt. Der Aktenvermerk: „Politischer Tscheche“ kann schon aufgrund einer negativen Äußerung gegenüber dem Nationalsozialismus zustande gekommen sein. Nach 10 Monaten Lagerzeit im KZ-Neuengamme wurde er am 5.März 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald / 5. SS-Baubrigade Köln-Deutz überstellt, die bei der Trümmerbeseitigung und beim Entschärfen von Blindgängern tätig war. Hier erhielt er die Häftlingsnummer: 45513/45613. Weitere Stationen seiner KZ-Zeit: Am 11.September 1944 wurde er ins Aussenkommando Dora-Mittelbau und am 29. Oktober 1944 ins Aussenkommando Ellrich/ SS-Baubrigade 4 überstellt. Wann er ins KZ-Sachsenhausen verbracht worden ist, ist nicht bekannt. Mit Hilfe dieser Informationen kann jedoch ausgesagt werden, dass Josef F. bereits mehr als zwei Jahre KZ-Haft hinter sich hatte, bevor er sich in Sülldorf als wohnhaft meldete.

Eine entscheidende Bedeutung für die Lebensumstände für die betroffenen ausländischen Arbeitskräfte kommt ihrer Herkunft zu. Grundsätzlich wurden die Ausländer vor allem nach Rassekriterien in drei Kategorien eingeteilt: Zum ersten die „Fremdarbeiter“ aus den westlichen Ländern. Sie waren den deutschen Arbeitskräften weites gehend gleichgestellt. Nicht alle von ihnen waren unter Zwang, aber in der Regel mit falschen Versprechungen ins Reich gekommen. Die zweite Gruppe waren polnische Arbeitskräfte, von denen nur etwa 5 % aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation „freiwillig“ in Deutschland tätig waren. Diese Gruppe unterlag dem sogenannten „Sonderrecht“ für Polen. Mit diesem „Recht“ sollte den Polen eine Sonderstellung als minderwertige Rasse zugewiesen werden. So waren Polen juristisch grundsätzlich nicht der Justiz, sondern der Gestapo unterstellt. Zudem war es den Deutschen und den Polen ausdrücklich verboten, jegliche enge, womöglich sogar geschlechtliche Beziehung einzugehen. Um polnische Männer und Frauen deutlich erkennen zu können, wurde ihnen vorgeschrieben an ihrer Kleidung ein violettes „P“ anzunähen. Damit polnische Arbeitskräfte möglichst wenig Kontakt zur deutschen Bevölkerung hatten, mussten sie bis auf den Bereich der Landwirtschaft in Barackenlagern (Polenlagern) leben. Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere diskriminierende Einschränkungen, z.B. durften sie öffentliche Verkehrmittel nur mit ausdrücklicher Genehmigung benutzen, durften nicht auf dem Fahrrad fahren, durften keine Kirchen besuchen, in denen sich Deutsche befanden, mussten in der Öffentlichkeit das „P“ an ihrer Kleidung tragen u.v.a.m. Die zweite Gruppe der ausländischen Arbeitskräfte waren die sogenannten „Ostarbeiter“, „Fremdarbeiter“ aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Sie waren für jedermann kenntlich durch einen auf die Kleidung aufgenähtes Abzeichen mit den Buchstaben „OST“. Für diese Gruppe waren die rechtliche Situation und die Lebensbedingungen noch härter und diskriminierender als die der Polen. Die dritte Gruppe waren jüdische Zwangsarbeiter, die völlig rechtlos waren und der SS unterstanden. Für diese Zwangsarbeiter war die Vernichtung durch Arbeit vorgesehen. Jüdische Zwangsarbeiter gab es in KZ-Außenlager in Wedel, in der Sülldorfer Landwirtschaft waren sie nicht tätig. Am Rande sei hier erwähnt, dass solche halbverhungerten KZ-Häftlinge 1945 beim Bau eines Panzergrabens in der Sülldorfer Feldmark tätig waren.

Die folgende Tabelle gibt Auskunft über die Herkunft der auf Sülldorfer Landwirtschaftsbetrieben wohnhaften Ausländer.

Tab. 2. Die Herkunft der in Sülldorf gemeldeten Ausländer

Nationalität
Zahl der gemeldeten Personen
Polen
23
Ukraine
11
Russland
6
Frankreich
3
Holland
3
Belgien
2
Ungarn
2
Kroatien
2
Jugoslawien
1
Tschechoslowakei
1
Galizien
1
nicht lesbar
5-6
Summe
60 – 61

Die Tabelle 2 zeigt, dass die in der Sülldorfer Landwirtschaft tätigen Arbeitskräfte aus elf verschieden Ländern kamen. Zweidrittel der Fremdarbeiter waren die besonders diskriminierten Polen und Ostarbeiter.

Wie die Lebensbedingungen der Landarbeiter aus dem Ausland in Sülldorf tatsächlich waren, lässt sich heute nur noch durch Zeitzeugengespräche herausfinden. Ein Zeitzeuge berichtet, dass die Baracken der französischen Kriegsgefangenen im Iserbrooker Weg 11 frei zugänglich, d.h. nicht mit Stacheldraht umzäunt waren. Ein anderer Sülldorfer Zeitzeuge erzählt mir, dass die französischen Kriegsgefangenen morgens unter Bewachung von „ihrem“ Lager zum Hof und abends wieder zurückgebracht wurden. Später „durften“ sie auch ohne Bewachung zu ihrer Arbeitsstelle gehen, da keine Fluchtgefahr mehr vermutet wurde und Bewachungspersonal immer knapper wurde. Später übernachtete ein Kriegsgefangener sogar auf dem Hof, ohne dort gemeldet gewesen zu sein. Der andere zog sich jedoch nach getaner Arbeit seine französische Uniform wieder an und stiefelte zurück ins Kriegsgefangenenlager.

Wie bereits oben erwähnt, sollten Polen und osteuropäische Arbeitskräfte möglichst wenig Kontakt zur deutschen Bevölkerung haben. Zu diesem Zweck war es auf den Höfen untersagt, dass die ausländischen Landarbeiter das Essen am gemeinsamen Tisch mit Deutschen einnahmen. Dieses Verbot wurde aber in Sülldorf kaum oder gar nicht beachtet. So berichten Sülldorfer Zeitzeugen, dass auf den Höfen Sülldorfer Kirchenweg 211, 242, 258 und 274 und auch im Bullenwisch 100 das Essen gemeinsam eingenommen wurde. Die gemeinsamen Mahlzeiten getrennt aufzunehmen war aber auch auf einem landwirtschaftlichen Betrieb wenig praktikabel und diese Vorschrift wurde in ganz Deutschland in landwirtschaftlichen Bereich nur wenig beachtet.

Trotz aller Diskriminierungen der polnischen und russischen Zivil- und Zwangsarbeitern, die in der Landwirtschaft tätig waren, ging es ihnen in der Regel besser als denjenigen Arbeitskräften, die in der übrigen Wirtschaft eingesetzt waren. Dieses betraf vor allem die Versorgung mit Nahrungsmittel. Wurden den Ausländern, die in der Wirtschaft tätig waren mit Kriegsverlauf zunehmend die Essensrationen gekürzt, mussten Landarbeitskräfte in der Regel nicht unter ständigem Hunger leiden.

Den für alle in Hamburg lebenden Personen bedrohliche Bombenkrieg stellte für die Zivil- und Zwangsarbeiter aus Polen und der UdSSR ein weitaus größeres Gefahrenpotential dar, als für die deutsche Bevölkerung, denn Polen und Russen war der Zugang zu Schutzräumen grundsätzlich verwehrt. Auf dem Hof Wilhelm Timmermann hatten russische Arbeiter einen Erdbunker als Schutzraum ausgehoben. Entgegen den Vorschriften suchten bei Fliegeralarm alle auf dem Hof Tätigen diese improvisierte Schutzmöglichkeit auf.

Das Hamburger Staatsarchiv teilte mir mit, dass möglicherweise Rückschlüsse auf die Lebensbedingungen der ausländischen Arbeiter auf den Sülldorfer Höfen bei der Durchsicht der Krankenakten des Staatskrankenhauses Langenhorn gezogen werden können. Um die, von der NS-Regierung rassenideologische Trennung von Deutschen und Ausländern zu gewährleisten, durften polnische und russische Arbeitskräfte nicht im Allgemeinen Krankenhaus behandelt werden. Zu diesem Zweck wurde ein „Ausländerkrankenhaus“ auf dem Gelände des Staatskrankenhauses in Langenhorn errichtet. Dieses bestand aus verschiedenen Baracken. In diesem Teil des Krankenhauses war die Versorgung der Kranken sowohl mit Medikamenten als auch mit Essen weitaus schlechter als in anderen Krankenhäusern. Im Staatsarchiv Hamburg sind Listen der in dieses Krankenhaus eingelieferten Ausländer vorhanden, in denen neben Diagnose, Einlieferungs- und Entlassungsdatum auch vermerkt ist, wohin diese Ausländer entlassen wurden. Auf Grund dieser Eintragungen konnten zwischen 1942 und 1945 zwei in Sülldorf ansässige Ukrainerinnen und ein Galizier identifiziert werden, die in Langenhorn behandelt wurden. Dunja Sch., Arbeitskraft auf den Hof Emma Ramcke (SK 218), wurde 1944 zweimal wegen einer Blinddarmentzündung behandelt. Für Lena K, tätig in der Schweinemästerei Hinrich Timmermann am Ohlnhof 2, sind als Diagnose lediglich Blutungen angegeben. Antoni B., vom Hof Behrmann (SK 259), wurde wegen eitriger Entzündungen (Phlegmone) am rechten Fuß im Krankenhaus behandelt und erst nach 12 Tagen entlassen. .

Die Durchsicht der Krankenakten der Sülldorfer Ausländer brachte also keine besondere Auffälligkeiten zu Tage, die Rückschlüsse auf besonders negative Lebensbedingungen der Ausländer in Sülldorf erlauben. Bei der Durchsicht der Listen ist aber auffällig, dass im Ausländerkrankenhaus auffällig viele Abtreibungen, insbesondere bei den in der Landwirtschaft tätigen osteuropäischen Frauen vorgenommen wurden. Abtreibungen waren in Dritten Reich unter Strafe verboten. Dieses Verbot wurde 1941 zunächst für Polinnen und 1942 für Ostarbeiterinnen aufgehoben. Konnten 1941 noch Frauen, die schwanger waren, rechtzeitig vor der Entbindung in ihre Heimat zurückgeschickt werden, wurde diese Praxis ab 1942 aufgegeben, da der Arbeitskräftemangel in Hamburg immer größer wurde.

Nicht selten wurde ausländischen Frauen in Hamburg ihr Kind nach der Geburt weggenommen. Diese Kinder wurden, wenn sich nach einer „Untersuchung“ herausstellte, dass sie „gutrassisch“ waren, zur Adoption freigegeben oder kamen in ein NSV-Kinderheim. Stammte das Kind allerdings von „nicht-gutrassischen“ Eltern ab, wurde das weggenommene Kind in eine sogenannte „Ausländerkinder-Pflegeanstalt“ verbracht. Diese Einrichtungen hatten die Aufgabe, die Säuglinge mittels mangelnder Versorgung sterben zu lassen. Durch Mundpropaganda war dies den meisten ausländischen Frauen bekannt, zumindest kursierten darüber Gerüchte.

War eine osteuropäische Frau nun schwanger geworden, stellte sich die Frage, ob sie die Leibesfrucht unter den Lebensbedingungen im Dritten Reich austragen wollte. Welche Perspektiven hatte ein solches Kind? Für viele Ostarbeiter-Frauen waren die Aussichten für ihren Nachwuchs so miserabel, dass sie sich, trotz größter seelischer und religiöser Konflikte, zur Abtreibung genötigt sahen. Der Hoferbe vom Hof Timmermann Sülldorfer Kirchenweg (SK 237) erzählt mir, dass bei deren Arbeitskraft, Tamara P. eine solche Abtreibung vorgenommen wurde, und zwar nicht wie häufig geschehen im Krankenhaus sondern direkt auf dem Hof. Der heutige Altbauer, der damals rund 10 Jahre alt war, berichtet, dass seine Mutter ihm mit den Fingern die Größe der Leibesfrucht zeigte. Als Vater des Kindes wurde ein russischer Soldat, der zur Wehrmacht übergelaufen war, genannt. Solche Soldaten waren in der Kaserne in Osdorf untergebracht und waren von Zeit zu Zeit in Sülldorf tätig, insbesondere bei Fliegeralarm.

Die Russin Tamara P. stellte unter den ausländischen Arbeitskräften in Sülldorf eine Besonderheit dar. Sie wurde am 24.3.1929 geboren und kam mit nur 14 Jahre als junges Mädchen am 11.10.1943 auf den Hof. Seit ihrem Zuzug hatte sie lange Zeit schweres Heimweh. Dieses legte sich erst später, so berichtete mir W. Timmermann, der mir noch ein Bild vom damaligen Mädchen Tamara zeigt und zur Verfügung stellt. Bei ihrer Schwangerschaft wird Tamara wohl 15, höchstens 16 Jahre alt gewesen sein.

Eines Nachts in Jahre 1943, es muss der 3. März gewesen sein, schlug gegen 3:00 Uhr in der Früh eine Brandbombe in den Hof Wilhelm Gerkens (SK 258) ein, die das Stallgebäude in Brand setzte. Der auf dem Hof tätige polnische Landarbeiter Jan W. bemerkte als erster das Feuer und weckte die Bauernfamilie. Da in dieser Nacht alle Feuerwehren zur Brandlöschung in Wedel eingesetzt waren, wurden nun alle im Dorf vorhandenen Arbeitskräfte eingesetzt, um das Feuer einzudämmen. Dies gelang auch, allerdings verendeten 7 Rinder als Folge des Ereignisses.

Dieser Jan W. wurde eines Tages von der Gestapo verhaftet. Anneliese Gerkens, die heutige Altbäuerin, erinnert sich, dass es auf ihrem Hof einen serbischen Arbeiter gab, dessen Briefe stets durch die Zensur gelesen wurden. Deshalb verabredeten die beiden „Utländer“, dass die Briefe aus Serbien an Jan W. adressiert werden. Dieses Vergehen wurde entdeckt und Jan W. wurde eines Tages von der Gestapo abgeholt. Der damalige Bauer Wilhelm Gerkens, der kurz nach der Festnahme auf Heimaturlaub in Sülldorf war, fuhr zur Gestapo und versuchte sich für Jan W. einzusetzen, um seine Freilassung zu erreichen. Bei der Gestapo drohte man jedoch dem Landwirt, dass er selbst in Haft genommen würde, würde er sich weiterhin für einen Polen einsetzen. Deshalb musste der Bauer unverrichteter Dinge auf den Hof zurückkehren. Jan W. ist auf dem Hof nicht wieder aufgetaucht. Auch nach ausgiebiger Recherche seitens des Hamburger Staatsarchives sind Akten über diesen Vorfall im Archiv wohl nicht vorhanden. Der Internationalen Suchdienst teilt mir mit, dass Jan W. nach Kriegsende im Mai 1945 im Lager Bergen-Belsen registriert wurde, er somit den Krieg überlebt hatte.

Wie waren ansonsten die Lebensumstände der „Fremdarbeiter“ in Sülldorf? Übereinstimmend berichten alle Sülldorfer Zeitzeugen, dass die „Utländer“ gut behandelt wurden (Ein Zeitzeuge: „Wie ein Knecht auf einem Hof eben behandelt wird.“). Ein Russe baute sich auf dem Hof Wilhelm Timmermann (SK 237) eine Balalaika. Um dies bewerkstelligen zu können, musste er Unterstützung von der bäuerlichen Familie erhalten haben. Der auf dem Hof beschäftige französische Kriegsgefangene tauchte nach dem Krieg eines Tages wieder bei den Timmermanns auf, um seine Arbeitsstätte und seine Arbeitgeber zu besuchen. Dieses spricht ebenfalls für eine gute Behandlung des Gefangenen. Der französisache Kriegsgefangene Andre, von Beruf her Drucker, besuchte den Hof Glißmann 1961 sogar für mehrere Tage. Er lud den Bauern zum Gegenbesuch nach Paris ein. Anstelle seiner nahm sein Sohn die Einladung an und fuhr 1964 mit einem zweiten Sülldorfer Landwirt zum ehemaligen „Feind“. Die ehemaligen Zwangsarbeiter hinter dem eisernen Vorhang hatten jedoch nicht die Chance, ihre ehemaligen Arbeitgeber und Arbeitsstätten aufzusuchen.

Trotz dieser positiven Beziehungen, die sich in Verlaufe der Kriegsjahre auf den Höfen ergeben hatten, darf nicht vergessen werden, dass der Aufenthalt in Sülldorf unfreiwillig war. Darüber hinaus sollte man sich bei der Frage der Beurteilung der Lebensumstände der Ausländer in der Sülldorfer Landwirtschaft auch die Situation der Personen vor Augen führen: Ihre Heimat war von deutschen Truppen besetzt, sie mussten in dem Land, das für die Okkupation verantwortlich war, die Wehrmachtssoldaten ersetzten und die Arbeit hinter der Front an Stelle derer für den „Feind“ verrichten. Zudem fehlten sie in der Heimat als Arbeitskräfte. Ihre „Bezahlung“ war so gering, dass kaum ein Landarbeiter Geld zur Unterstützung ihrer Familien in ihre Heimat überweisen konnte. Darüber hinaus wurde ihnen die Ausübung ihrer Religion verwehrt, da sie Gottesdienste nicht besuchen durften. Was dies insbesondere für die polnischen Katholiken bedeutete, kann der ermessen, der um die Stellenwert der katholischen Kirche in der polnischen Bevölkerung weiß.

Darüber, wie groß die Freude über das Ende des Krieges und die Kapitulation Deutschlands bei den Zwangsarbeitern in Sülldorf war, kann nur spekuliert werden. Für die westlichen Ausländer war es mit Sicherheit eine Freude mit der Aussicht bald in die Heimat zurückkehren zu können. Mit größter Wahrscheinlichkeit auch für die meisten Polen, sofern sie nicht aus Gebieten stammten, die Polen an die Sowjetunion abtreten mussten und die in sofern ihre Heimat verloren hatten. Für die Arbeitskräfte aus der Sowjetunion begann nach der Rückkehr oft eine sehr schwere Zeit. Teilweise wurden sie nach Rückkehr als Kollaborateure angesehen und behandelt, die jahrelang für den Feind gearbeitet hatten. Erneut wurden sie gesellschaftlich benachteiligt.

Die Rückkehr in die Heimat dauerte länger als es sich die meisten Fremdarbeiter wünschten. Zuerst konnten die westlichen Ausländer zurückkehren. Für den Rücktransport der Osteuropäer standen zunächst nicht genügend Transportkapazitäten zur Verfügung. Sie mussten teilweise Monate auf ihre Rückkehr warten. In der Hausmeldedatei ist in der Regel auch angegeben, wann eine Person abgemeldet wurde. In den Wirren des Kriegsendes, erfolgte aber kaum noch eine Meldung. Ein Pole aus der Schweinemästerei am Bullenwisch verließ den Hof erst am 26.10.1945 und siedelte zunächst in ein „Polenlager“ über. Diese Lager wurden als Übergangsstation von den Briten eingerichtet, um den Rücktransport zu organisieren. Von diesem „Polen“ wird später noch die Rede sein. Auf dem Hof Wilhelm Ellerbrock (SK 274) blieb der am 31.5.1945 zugezogene 34 jährige ukrainische Landarbeiter Jacow G. sogar noch bis 1949 auf dem Hof. Der polnische Landarbeiter Stanislaw, von Hof SK 258 soll nach Ende des Krieges ebenfalls in Deutschland geblieben sein.

Eine Begebenheit soll hier noch erzählt werden, die sich erst nach der Kapitulation zutrug: Auf dem Hof Timmermann (SK 237) wurde die Bauernfamilie eines Nachts im Schlafzimmer aufgeschreckt. Mehrere Personen waren in das Schlafgemach eingedrungen und offensichtlich mit Pistolen bewaffnet. Die Altbäuerin stellte sich schlafend, die Kinder machten kein Mucks. Die Einbrecher durchsuchten die Schränke und erbeuteten Lebensmittel, wie zum Beispiel Schmalz, das zwischen der Wäsche versteckt war. Vermutlich handelte es sich um noch nicht zurückgekehrte Zwangsarbeiter, deren Antrieb der Hunger war. Die Identität der Einbrecher konnte nicht geklärt werden.

Der Verlust von Arbeitskräften durch gefallene Soldaten und den Wegzug der Ausländer in ihre Heimat konnten durch rückkehrende Soldaten und durch die Ströme von heimatvertriebenen Deutschen aus den Ostgebieten zeitnah wieder ausgeglichen werden. Waren die Kammern, in denen die “Utländer“ lebten, wieder frei, zogen kurz darauf deutsche Arbeitskräfte auf den Höfen ein, so dass die landwirtschaftliche Arbeit nicht unter dem Wegzug litt.

Erst viele Jahre nach Kriegsende rückte die Problematik der Zwangsarbeiter im Dritten Reich in die bundesrepublikanische Öffentlichkeit, da in den USA eine Sammelklage zur Entschädigung von Zwangsarbeit vorbereitet wurde. Auf Grund dieser Sachlage wurde am 12.08.2000 ein Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ erlassen. Diese Stiftung wurde, ausgestattet mit Finanzmitteln von Staat und Industrie, beauftragt ehemalige Zwangsarbeiter zu entschädigen. Arbeitskräften, die in der Landwirtschaft tätig waren, standen aber eine solche Entschädigung nicht zu. Begründet wurde dieses damit, dass Land-Arbeitskräfte gegenüber ihren Landsleuten in der Industrie relativ besser gestellt gewesen sein sollen. Dies trifft vermutlich besonders auf die Ernährungssituation zu. Dennoch stellte die diskriminierende und damit entwürdigende Lebenssituation für alle in Deutschland tätigen Polen und Russen mit Sicherheit ein nicht vergessenes Leid dar. Zudem hatten sie wertvolle Jahre ihres Lebens fern ihrer Heimat verloren.

Um weitere Informationen zu erhalten, verteilte ich den ersten Entwurf dieses Artikels an alle heutigen und ehemaligen Eigentümern der Betriebe mit der Bitte, Erinnerungen und Überlieferungen zum Thema zu ergänzen. Nicht ohne Erfolg! Die Enkelin der Schweinemästerei Butze am Bullenwisch meldete sich und gab mir bereitwillig den Namen und Telefonnummer eines ehemaligen Zwangsarbeiters, der in Hamburg geblieben sein sollte. Frau Binikowski meldete sich am anderen Ende der Leitung und erklärte, dass ihr Mann vor zwei Jahren leider verstorben sei. Sie kenne aber die Geschichte ihres Mannes ganz genau und erkläre sich zu einem Gespräch mit mir bereit:

Herbert Binikowski erblickte am 10. April 1925 im polnischen Pommern als zweiter Sohn von Landarbeitern das Licht der Welt. In dieser Region war es vor dem Krieg war recht unbedeutend gewesen, ob jemand polnisch, deutsch oder beides war. Dieses änderte sich, denn die Nationalsozialisten brauchten aufgrund ihrer rasseidelogischen Gesetzgebung eine definierte Rassezuordnung. Dazu wurden die betroffenen Bürger befragt. Herberts Mutter konnte sich nicht dazu durchringen anzugeben, dass sie überwiegend deutsch waren. Dabei überlegte sie auch, dass ihre Söhne dann als deutsche Soldaten in den Krieg ziehen müssten. Von den Beamten wurde auf dem Formular also die Herkunft „deutsch“ durchgestrichen. Von nun an waren die Binikowskis Polen.

Inzwischen lebte die Familie in Lodz. Herberts Mutter war seit 1939 schwer krank und pflegebedürftig. Aus diesem Grunde ging er zwei Jahre nicht zur Schule. Seinen Vater hatten die Nationalsozialisten 1940 aus politischen Gründen „abgeholt“. Er sollte nie wieder auftauchen. Anfang 1941 verstarb Herberts Mutter. Ende Januar 1941 entschied sich der 15-jährige, dass er nun arbeiten müsse, um zu überleben. Aus Mangel an einer Alternative ging Herbert zum Arbeitsamt. Als er sich dort meldete, behielten sie ihn gleich da. Er durfte nicht wieder nach Hause und wurde umgehend, nur mit dem was er auf dem Leib trug, in ein Sammellager gebracht.

Das Sammellager war eigentlich ein Gefängnis. Es war mit Stacheldraht umzäunt und es wurde bewacht, um die Flucht der Insassen zu verhindern. Zunächst wurden den Männern die Köpfe kahl geschoren. Auch wenn damit ein Verlust an Individualität verbunden war, war dieses für die Inhaftierten von Vorteil, denn im Lager wimmelte es nur so von Läusen. 14 Tage musste Herbert dort verbringen, bis der Sammeltransport zusammengestellt war. Als Kolonne marschierten die Arbeiter unter bewaffneter Aufsicht zum Bahnhof. Dabei erkannte er einen Verwandten unter den uniformierten Bewachern. Vermutlich hatte dieser „deutsch“ als Herkunft angegeben und musste nun seine „Landsleute“ bewachen. Seinem Bruder gelang es, Herbert auf dem Marsch einen Koffer zu übergeben, in dem ein Brot und Unterwäsche war. Mehr hatte er nicht dabei, als er in den Güterwaggon einsteigen musste, um ins Reich transportiert zu werden. Zwei Tage dauerte die Reise. Herbert berichtete später immer wieder von der Kälte. Es war Februar als der Zug gen Westen rollte.

In Hamburg angekommen, wurden die Zwangsarbeiter auf die Höfe verteilt. Diese Verteilung fand am Bieberhaus (nach dem Krieg bis 1991 Ausländerbehörde) in Hamburg statt. Dahin kamen die Bauern, um sich eine Person auszusuchen. Herbert war als Landarbeiter eigentlich zu jung, zudem war er spindeldürr. Frau Butze, die Bäuerin von der Schweinemästerei am Bullenwisch, wählte ihn trotzdem, weil er als einziger einen Koffer bei sich trug. Sie hoffte dabei, dass er wenigstens genügend Wäsche bei sich hatte. Als sie auf dem Hof kamen, war Hugo Butze, der Bauer, nicht gerade begeistert, welche schwächliche Arbeitskraft seine Frau auf den Hof mitgebracht hatte. Als sich herausstellte, dass der Koffer fast leer war, stellte sich das Problem, dass der Knabe zunächst mit Kleidung ausgestattet werden musste.

Herbert hatte es bei den Butzes gut gehabt. Die Butzes hatten nur eine Tochter und behandelten ihn fast wie ihren eigenen Sohn. Da er sehr fleißig war, war die Bauernfamilie auch äußerst zufrieden mit ihm. Er bekam Privilegien, die anderen Landarbeitern nicht zuteil wurden. So besuchte er sogar einmal zusammen mit Frau Butze ein Kino. Das war für „Polen“ natürlich verboten. Um nicht aufzufallen, trug er entgegen den Vorschriften nicht das vorgeschriebene „P“ an seiner Kleidung. In den viereinhalb Jahren Arbeitszeit auf dem Hof konnte er mit Hilfe der Butzes darüber hinaus eine Reise unternehmen und seine Brüder, die in einer Wäscherei in Ostpreußen arbeiten mussten, besuchen. Um neben der Arbeit auch mal unter Menschen zu kommen, konnte er manchmal die anderen Landarbeiter auf Sülldorfer Höfen besuchen. Dass die Arbeitsbedingungen auf den anderen Höfen nicht so gut wie seine waren, erfuhr er auch dadurch, da zur Erntezeit die Landarbeiter an andere Bauern verliehen wurden und er so andere Sülldorfer Betriebe genauer kennen lernte.

Die britische Militärverwaltung forderte nach der Kapitulation alle Zwangsarbeiter auf, zunächst in ihren Betriebsstätten und Unterkünften zu bleiben. Erst im Oktober 1945 siedelte Herbert in ein von den Alliierten eingerichteten „Polenlager“ in Wendtorf bei Hamburg über. Dort konnten sich die ehemaligen Zwangsarbeiter entscheiden: Zurück in die Heimat, auswandern z.B. nach Kanada oder in Deutschland bleiben. Ein Grund für seine Entscheidung war, dass Herbert ein Auge auf die ebenfalls auf dem Hof tätige Hilde geworfen hatte. Seinen 21.Geburtstag, am 10.4.1946 feierte er auf dem Hof der Butzes zusammen mit seiner Angebeteten. Aus diesem Grund und da er kein Zuhause mehr in Polen hatte, entschied er sich in Hamburg zu bleiben.

Die Butzes hätten ihn auch weiter beschäftigt, doch sagte Hugo Butze, dass sein Betrieb keine Zukunft hätte. Deshalb empfahlen sie Herbert eine Lehre zu beginnen. Durch gute Kontakte des Schweinemästers zur Schlachterei Gloe in der Osdorfer Langelohstraße, konnte Herbert dort eine Lehre beginnen. 1950 heirate er seine Verlobte. Sie zogen in ein Behelfswohnheim im Iserbrookerweg (heute Sportplatz) und wohnten dort viele Jahre. Ihre gemeinsamen Kinder zog der Hof am Bullenwisch immer wieder magnetisch an. Sie waren dort immer willkommen. Auf den Bildern, die mir Frau Binikowski zeigt, kann man erkennen, welche Freude Hugo Butze an seinen „Enkelkindern“ hat.

Später arbeitet Herbert Binikowski als Selbstständiger auf dem Hamburger Schlachthof. Nach einem arbeitsreichem Leben bekommen die Binikowskis nur eine sehr kleine Rente, denn sie hatten in den Jahren des Berufslebens kaum Geld, um größere Beträge in die Rentenkasse einzuzahlen. Auch die Ausfallzeiten durch Aufenthalt in Lagern und die Zeit der Zwangsarbeit auf dem Sülldofer Hof trugen nicht positiv zu höheren Rentenansprüchen bei. Allerdings bekamen die Binikowskis 1992 eine Einmalzahlung der „Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte“. Eine Anerkennung der Stadt Hamburg immerhin für die schwere Lebenssituation eines Hamburger Zwangsarbeiters.

So viele Jahre nach Kriegsende habe ich nun versucht diesen Teil der Geschichte aufzuschreiben. Bedauerlicherweise recht unvollständig, da die meisten Betroffenen längst verstorben sind, an unbekannten Orten wohnen und eine Sprache sprechen, die mir nicht geläufig ist. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit leben die oben genannte Russin Ludmilla mit Geburtsort in Hamburg und Tamara P. noch irgendwo weit weg von uns im Osten, ohne dass sie uns ihre Geschichte erzählen können. Versuchen will ich es ja noch: Sie in Russland ausfindig zu machen und mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, um ihre Geschichte zu erfahren. Ich werde dann darüber berichten.

Quellen:

Hamburger Staatsarchiv: Hausmeldekartei Hamburg

Hamburger Staatsarchiv: Krankenlisten Ausländerkrankenhaus Langenhorn

Hamburger Staatsarchiv: Altonaer Adressbuch 1938

Hamburger Staatsarchiv: Ausländerkartei Hamburg von 1939 - 1945

Littmann, Friederike: Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939 – 1945, Hamburg 2006

Schenefelder Rundschau: „Ein ehemaliger Zwangsarbeiter erzählt“ Bericht über die Lebensgeschichte von Herbert Binikowki im Rahmen eines Schulprojektes des Gymnasiums Schenefeld. Ungefähr aus dem Jahr 2003

Zeitzeugen aus Sülldorf

© Wolf Müller

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